Es war einmal ein König, welcher einen alten, kränklichen Schafhirten hatte. Als dieser starb, brauchte man einen andern Hirten, denn die Schafe konnten unmöglich ohne Hüter bleiben. Der König ließ daher in seinem Land bekanntmachen, daß der alte Schäfer gestorben sei und er einen neuen in Dienst nehmen werde.
Zu der Zeit kam ein junger Hirte in die Stadt, ließ sich beim König melden, und wie er zu demselben ins Zimmer trat, sprach er: „Ich bin ein Schäfer, und da ich hörte, daß Ihr einen solchen braucht, so will ich, wenn es Euch gefällt, Eure Schafe hüten.“
Der junge Mensch gefiel dem König, und er befahl ihm, am nächsten Morgen wiederzukommen. In der Früh kam der Hirt. Der König faßte seine Hand und führte ihn in den Stall zu den Schafen, welche recht mager aussahen, da sie schon lange nicht auf der Weide gewesen waren; anderes Futter hatten sie nicht bekommen. Nachdem der König dem Hirten die Schafe übergeben hatte, ging er fort. Der junge Schäfer nahm nun seine Flöte und die Peitsche, ließ die Herde aus dem Stall und trieb sie zur Stadt hinaus.
Als der Hirt das Stadttor verlassen hatte, dachte er, wie er wohl einen guten Weideplatz für seine ausgehungerten Schafe ausfindig machen könnte. Es war aber nicht leicht, zu jener Zeit eine gute Weide zu finden, denn es war schon Spätherbst. Nach langem Herumziehen kam unser Hirt mit seinen Schafen zu einem mächtigen, hochstämmigen Wald, vor welchem sich eine mit üppigem Gras bedeckte Wiese ausbreitete. Die hungrigen Tiere machten sich gleich über das Gras her, und es schmeckte ihnen vortrefflich, so daß sie allmählich zunahmen. Vergnügt setzte er sich nieder, nahm die Flöte zur Hand und spielte.
Mittlerweile kamen aus dem Wald sieben kleine Männchen heran gehüpft. Der Schäfer bemerkte sie nicht eher, als bis dieselben ganz nahe standen und um ihn herumsprangen, tanzten und die wunderlichsten Possen trieben.
Als unser Hirt diese kleinen Wesen gewahr wurde, konnte er sich über die Männchen nicht genug wundern; er gewann sie bald lieb und spielte ihnen auf der Flöte vor, während die Männlein tanzten. Auf diese Weise verkürzte sich der Schäfer die Langeweile. Dies dauerte den ganzen Tag bis zur sinkenden Nacht, und unser Hirt unterhielt sich dabei so gut, daß er selbst sein Mittagessen vergessen hatte.
Kaum war der erste Stern am Himmel erschienen, so verschwanden die Männchen von der Wiese, und der Hirt trieb frohen Mutes die wohlgenährten Schafe nach Hause.
Als der König die Schafe erblickte und sah, wie dieselben an Fleisch zugenommen hatten, war er hocherfreut. Beim Zählen jedoch fehlten sieben Stück von der Herde. Der Schäfer erschrak und konnte nicht sagen, wo diese sieben Schafe hingekommen seien. Diesmal vergab es ihm der König, weil die Herde so gut genährt war. Die Schafe verloren indessen über Nacht all ihr Fleisch und waren am nächsten Tag so mager wie vorher, denn sie hatten das Gras einer Zauberwiese gefressen, dessen Wirkung nur bis Mitternacht währte. Unbekümmert darum trieb der Hirt seine Schafe wieder auf die üppige Wiese, nahm sich aber vor, auf die Herde besser acht zugeben.
Die Schafe weideten, und der Schäfer spielte auf der Flöte. Alsdann kamen die Männlein wieder herbei, hüpften wie gestern und trieben ihren Schabernack den ganzen Tag.
Am Abend, als der König die Schafe zählte, fehlten wiederum sieben Stück. Diesmal konnte er es nicht so hingehen lassen; zur Strafe bekam der Hirt keinen Lohn, und der König drohte ihn fortzujagen, wenn ähnliches noch einmal vorfalle. Eine solche Drohung ängstigte den Schäfer, und er dachte nach, wer wohl der Dieb sein möge – ein Wolf oder gar die Männchen. Trotzdem aber trieb er am dritten Tag die Herde auf den alten Weideplatz, da das Treiben der kleinen Wesen ihn ergötzte. Als daher der Hirt am Morgen auf die Wiese kam, so warteten die Männchen schon und baten ihn, er möge ihnen auf der Flöte vorspielen. Der gutherzige Schäfer konnte ihre Bitte nicht abschlagen; er spielte, und die Männlein tanzten und sprangen. Abends trieb der Schäfer die Herde heim, aber wehe – auch diesmal fehlten sieben Schafe. Darüber wurde der König zornig und sprach: „Du hast bei mir ausgedient, über die Nacht lasse ich dich noch hier, aber morgen früh verläßt du die Stadt.“
Am anderen Morgen wanderte der Hirt traurig aus dem Schloß, in dem er nur drei Tage gedient hatte. Tiefgebeugt langte er auf seinem Weideplatz an, und vor Schmerz warf er sich ins Gras und klagte: „Was fange ich nun an, ich armer Wicht, ohne Dienst, ohne Brot? Der Winter steht vor der Tür, und ich muß geradezu verhungern.“ Er weinte und bereute es tausendmal, die Herde auf diese verhexte Wiese getrieben zu haben. Plötzlich stand vor dem Hirten ein graues Männlein und sprach: „Beruhige dich, und höre mich an, denn ich bin derjenige, welcher dir dreimal sieben Stück Schafe gestohlen hat.“
„Du bist der Schurke?“ schrie der Hirt. „So gib sie mir zurück.“
Das Männchen antwortete: „Ich habe die Schafe nicht mehr, jedoch werden sie dir reichlich ersetzt werden, sei nur ruhig. – Sieh mich an; vor vielen Jahren habe ich anders ausgesehen, denn damals war ich der König der Zwerge. Höre nun, wie die Herrschaft über mein Volk für mich verloren ging: Der König der Schlangen, nämlich der Drache, ist einst mit allen Schlangen ausgezogen, um für den Winter eine bequeme und schöne Wohnung aufzusuchen. Da hörte das Ungeheuer von meinem Zwergenberg, indem es so prächtig aussieht, und von dem großen Schatz, den wir bewachen. Solche Nachricht gefiel ihm, und er machte sich in unser Reich auf. Meine Zwerge konnten den Schlangen keinen Widerstand entgegenstellen, denn jede versetzte einem Zwerg einen tödlichen Biß. Nur mich und meine sieben Kinder verschonten die Schlangen, welche darauf von meiner Wohnung Besitz nahmen und seitdem jeden Winter zurückkehren. Mein goldenes Gewand wurde in dieses graue verwandelt, und weil ich früher den Leuten viele Wohltaten erwiesen habe, wurde ich von den Schlangen, welche der Menschen Feinde sind, verurteilt, denselben Schaden zuzufügen. Darum mußte ich dir dreimal sieben Stück Schafe stehlen, und zwar tat ich es in der Zeit, als meine Kinder um dich herumtanzten und du auf die Herde nicht aufmerksam warst. Vergib es mir und sei sicher, ich tat es nur meiner Kinder wegen, welche großen Hunger hatten, denn der Drache gibt uns im Sommer nichts zu essen, nur den Winter über bekommen wir etwas. Unsere Pflicht besteht darin, für die Schlangen zu wachen und sie vor Gefahr zu beschützen. Nun aber habe ich das Leiden satt und bitte dich, Jüngling, sei unser Retter! Als Lohn erhältst du den großen Schatz.“
„Recht gerne, aber wie?“ antwortete der Hirt.
Der Zwerg sprach: „Folge mir“, und nun gingen beide in den Wald, in dessen Mitte sich ein mächtiger Berg erhob. Als diese zwei bei dem Berg anlangten, sprach der Zwergenkönig zum Hirten: „Besteige die Spitze des Berges, und du findest dort einen Baum und unter dem Baum einen schwarzen Stein. Diesen nimm heraus, grabe nach, du wirst ein goldenes Kästchen erblicken. In demselben befinden sich ein Schwert, ein weißes Tuch und ein kristallenes Gefäß mit einer Salbe. Dieses Kästchen nimm heraus und bringe es mir. Und nun geh, ich beschütze dich.“
Der Hirt kam ohne Gefahr hinauf, fand alles so, wie der Zwerg gesagt hatte, und brachte das Kästchen herunter. Jetzt sprach wieder der Zwergenkönig, indem er das Kästchen dem Schäfer übergab: „Mit der Salbe in dem Kristallgefäß reib deinen Körper ein, damit dir das Gift der Schlangen nicht schade, nimm hierauf Schwert und Tuch, verstecke dich im Gebüsch, und erwarte die Schlangen, denn heute ist der Tag, an dem sie kommen, um über den Winter im Berg zu schlafen. Sind alle Schlangen im Berg drinnen, so trittst du nach einer Weile hervor, gehst zu der Stelle, an welcher die Schlangen in den Berg krochen, pflückst dort ein Blümchen, welches an dieser Stelle wächst, berührst mit demselben den Berg, der öffnet sich dann, und du kannst eintreten. Am leichtesten wirst du den Drachen töten, wenn du auf seinen Rücken trittst, denn so kann er dir nicht schaden. Nimm hierauf das Schwert in die rechte Hand, und breite mit der linken über die Krone, welche der Drache auf dem Kopf trägt, das weiße Tuch aus, und nimm dieselbe weg. Ist dies geschehen, so erwachen der Drache und auch die Schlangen, welche auf dich zustürzen werden; jedoch hau nur kräftig um dich herum, und von dem Rücken des Drachen steig nicht herab. Dann wird der Drache mit dir davonfliegen. Gewahrst du im Flug Wasser unter dir, so schlage mit der im weißen Tuch eingewickelten Krone den Drachen siebenmal auf den Kopf. Darauf stürzt der Drache ins Wasser, du aber fällst auf ein Schiff, welches dich ans Ufer bringt. Dort angelangt, wirf die Krone auf die Erde, tritt auf sie und sprich: ‚Ich will bei den Zwergen sein!‘, und in einem Augenblick bist du bei uns und empfängst deinen Lohn. Jetzt lebe recht wohl, sei mutig und vertraue auf unsere unsichtbare Hilfe.“
Damit verschwand der Zwergenkönig.
Der Hirt begab sich nun hinter ein Gebüsch und rieb seinen Körper mit der Salbe ein, nahm das Schwert in die rechte Hand, das weiße Tuch in die linke. So gerüstet erwartete er die Schlangen. Es dauerte nicht lange, und diese kamen unter Zischen heran. Der König kroch zuerst. Als er beim Berg ankam, riß er mittels seiner Zunge ein grünes Kraut aus, berührte mit demselben den Berg, dieser sprang auf, und er kroch hinein. Eine unendliche Reihe von Schlangen folgte seinem Beispiel. Als die letzte Schlange im Berg verschwunden war, schloß sich der Felsen. Nach einer Weile trat der Hirt hervor und berührte mit dem Hexenkraut den Felsen, wie er es von den Schlangen gesehen hatte, und der Felsen tat sich auf. Der Schäfer trat nun in das Innere des Berges, und nachdem er eine Reihe von prachtvollen Gängen und Gemächern durchschritten hatte, kam er in einen äußerst kostbar geschmückten Saal, dessen Wände aus Gold und mit Edelsteinen reich besetzt waren. In der Mitte desselben stand ein kristallener Tisch, auf dem zusammengerollt der Schlangenkönig lag; am Boden um den Tisch herum schliefen die übrigen Schlangen *. Mutig schritt der Hirt über die Schlangen hinweg, ohne daß er ihnen oder sie ihm geschadet hätten, frisch auf den Tisch zu, stieg auf den Rücken des Drachen und nahm ihm mit der in das weiße Tuch gewickelten Hand die Krone weg. Kaum war dies geschehen, so streckte sich der Drache aus, und nun setzte sich der Hirt so auf den Drachen, als wollte er auf ihm reiten.
Der Drache sprühte in seinem Grimm Feuer aus dem Rachen, und die erwachten Schlangen sprangen auf den Hüten zu und wollten ihn beißen; allein dieser hieb einer jeden Schlange, welche in seine Nähe kam, den Kopf ab. – Jetzt bekam der Drache Flügel, erhob sich mit großem Geräusch, durchbrach den oberen Teil des Berges und gelangte ins Freie. Er flog nun, mit dem Hirten auf dem Rücken, über Berg und Tal pfeilschnell fort. Als der Schäfer unter sich plötzlich Wasser erblickte, schlug er den Drachen mit der Krone siebenmal auf den Kopf – und siehe da, der Drache senkte sich mit fürchterlichem Gebrüll ins Meer. Der Hirt fiel, wie der Zwerg vorhergesagt hatte, auf ein Schiff, und dieses brachte ihn ans Ufer. Hier angekommen, gedachte er abermals der Worte des Zwergenkönigs, warf die Krone auf die Erde, trat darauf und sprach: „Ich will bei den Zwergen sein!“ Im gleichen Augenblick war er an dem gewünschten Ort und stand vor dem rauchenden Berg unter den jubelnden Zwergen, welche ihn als ihren Retter begrüßten.
Mit vielen Danksagungen übergab der Zwergenkönig dem Schäfer den großen Schatz. Der Hirt war nun überreich, kaufte dem König, bei dem er früher gedient hatte, sein Land ab, heiratete eine seiner Töchter und lebte viele Jahre lang glücklich. Die Zwerge aber zogen in ein anderes Land und machten sich dort ansässig. Von den Schlangen wurden die meisten verbrannt oder von dem einstürzenden Berg erschlagen, jene aber, denen es gelang, sich zu verkriechen oder zu entkommen, wurden von der Hitze so geblendet, daß sie alle blind wurden und es heutigen Tages noch sind. Seit dieser Zeit, sagen die Leute, gibt es wohl Wassereidechsen, aber wenige Schlangen und gar keinen Drachen mehr.
Während des Winterschlafes sind die Schlangen gefühllos und so starr, als wären sie aus Stein. Zuerst erwacht die älteste Schlange (der Drache) und weckt dann die übrigen auf, indem sie ruft: „Es ist Zeit!“
Quelle: Märchen aus der Umgebung von Moldautein im südlichen Böhmen, maerchenbasar.de