Einst sitzt im Stübchen, schlicht und klein
Stankt Annens frommes Töchterlein
Maria, einsam und bedacht,
den Rocken leer zu sehn vor Nacht.
Sie streicht mit ihren Händchen weich
von Zeit zu Zeit den Goldflachs gleich,
zupft Flocken aus dem Wickelbund
benetzt mit Tau vom Knospenmund
die Fingerchen, wie Schnee so weiß
und zieht und dreht mit regem Fleiß
den Faden aus gar fein, fein, fein,
und lächelt hochvergnügt darein
und denkt: Es spinnt wohl manche nett
bei uns in Nazareth,
in Sichar und in Bethlehem
und vollends in Jerusalem;
wer aber spinnt so säuberlich
vom Jordan bis ans Meer – wie ich?
Da flüstert’s: „Ich!“ ihr nah ganz keck.
Die Jungfrau faßt darob ein Schreck,
sie blickt erstaunt und furchtsam schier
um sich, wer im gemach noch hier
und Antwort gibt der Frage gar,
sie doch nur ein Gedanke war.
Und in der Zimmerecke jetzt
ersieht ein Spinnlein sie, das netzt.
Dies sputet flink sich hin und her
und auf und ab und kreuz und quer
und ziehet lang, nach Seilerart,
die Fädchen, doch so wunderzart,
daß sie die Jungfrau kaum nimmt wahr
mit Augen, die doch sternenklar.
Da überglüht mit Purpur reich,
der Rose von Damaskus gleich,
die Scham die Wangen; reuig senkt
voll Demut sie den Blick und denkt
mit frommem Sinn: O, Herr! Vergib,
daß ich so schnöde Hoffart trieb.
Mich dünkt mein Schaffen all nur Tand,
Nun mich ein Tierlein überwand.
Ballade von Karl Gottfried Leitner, 1800 – 1890
Unsere Sehnsüchte sind unsere Möglichkeiten.
Robert Browning